„Du vastehst mi net“ – Über unterschiedliche Auffassungen eines Textes und die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Interpretation

Hinter diesem hochtrabenden Titel steht ein Dilemma, in dem ich mich vor Kurzem befand. Ich bekam einen Text mit dem Vermerk zurück, dass ich einige Dinge falsch übersetzt hätte. An und für sich kein großes Drama, ich bin nicht perfekt und immer dankbar für Hinweise, wie es besser geht. Was mir hier allerdings angekreidet wurde, war meine Interpretation des Textes. Ich hatte eine gänzlich andere Sichtweise als der Lektor, was zum kleinen Teil mit meinem persönlichen Hintergrund und zum großen Teil mit meiner Auslegung der Worte zu tun hat.

Es ist eine Geschichte über einen Autor beim Schreiben. Ich konnte mich gut in ihn hineinversetzen und nachfühlen, wie es ist, wenn man mitten aus einer grandiosen Schreibphase gerissen wird. Und da fingen die Unterschiede schon an – für mich ist es „herausreißen“, für den Lektor war es maximal ein mildes „herausholen“. Ich hatte den Eindruck, dass der HC-Autor in dieser Geschichte den Störenfried abwimmeln will, für den Lektor war es ein leicht geistesabwesendes „sei so lieb und lass mich ein bisschen allein weiterarbeiten“.
Wir hatten also einen Unterschied in der Auffassung der Geschichte und demnach unterschiedliche Übersetzungen für die Passagen. Ich las zwischen die Zeilen etwas anderes hinein als der Lektor, und die Intention des Autors liegt vermutlich irgendwo dazwischen :-)

Gefolgt von einer Episode, wo 1 Autor und 2 Betaleser 3 unterschiedliche Meinungen zu einem Charakter hatten. Und zwar fundamental unterschiedlich. Was ich wirklich kurios fand, weil ich dachte, dass zumindest ein paar Übereinstimmungen bestehen und sich höchstens der Grad der Wahrnehmung unterscheidet. Nope. Total unterschiedlich. Was der Autor für liebenswert hielt, fand Testleser 1 zickig und Testleser 2 rückgratlos. Aha.

Jedenfalls brachte mich das zum Nachdenken über die unterschiedliche Auffassungen, die verschiedene Menschen von ein und demselben Text haben können. Und dass man so etwas als Autor nicht verhindern kann.
Jeder Leser bringt seine eigenen Erfahrungen und Erwartungen mit in die Lektüre, und darauf hat man als Autor nicht den geringsten Einfluss. Oft regen sich Leser über Dinge auf, bei denen der Autor nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, dass es aufregenswert sei, und andere Sachen, bei denen der Autor lange herumüberlegt hat, sind dem Leser egal und gehen im Text unter.
Ich zB habe ein heftiges Problem mit Ehebruch und Betrug in einem Buch – einer Freundin von mir ist das vollkommen egal. Solange es einigermaßen begründet ist, hat sie keine Probleme, wenn der HC seinen Partner betrügt.
Ich mag keine heulenden HCs, während ein Freund von mir findet, dass es absolut legitim ist, als Charakter dauernd in Tränen auszubrechen, wenn die Situation so schlimm/schön ist. Das zeigt für ihn, dass der HC emotional ergriffen ist.
Ich kriege eine schwere Krise, wenn Pferde in einem Buch als lebende Motorräder behandelt werden (I’m looking at you, Graceling), anderen ist es völlig egal, obwohl sie selbst Pferde habe. Der Autor kann eben nicht alles wissen, da macht es nichts, wenn er nicht jedes Detail richtig hinbekommt.
Ich wiederum akzeptiere das typische „das ist der Gebäudeplan, und durch diesen Luftschacht kommen wir ins Haus“ ohne darüber nachzudenken, während der BEVA bestenfalls die Augen verdreht, meistens jedoch einen Vortrag über Pläne hält und sich regelmäßig über die unkorrekte Darstellung von Technik in Romanen und Filmen aufregt.

Nachdem es mir unmöglich scheint, dass der Leser den Text genau so auffasst, wie der Autor es meint, bleibt nur der Versuch, durch richtige Wortwahl und alle Register der Manipulation (zB rhetorische Stilmittel wie Metapher, Simile, Ellipse etc., Absatzgestaltung, Szenenaufbau, Blickwinkel …) den Leser dazu zu bringen, sich der Interpretation des Autors anzuschließen. Und wenn es nicht gelingt – nun, dann bleibt für den Autor eine neue Sichtweise, wie seine Worte auch aufgefasst werden können, und er lernt was dazu.
Um es mit den Worten von Wolfgang Ambros zu sagen: „Du vastehst mi net, des konn doch net sein, des geht ma net ein, des begreif i net“ :-P

Es ist normal, dass Autor und Leser unterschiedlicher Auffassung sind. Es mag mir nicht gefallen, und natürlich wär’s mir am liebsten, wenn sich aller meiner Interpretation eines Textes anschließen, aber das wird’s nicht spielen. Bestenfalls finde ich gleichgesinnte Leser, die meine Meinung teilen, schlimmstenfalls welche, die mein Buch in der Luft zerreißen, weil sie es nicht mögen und Sachen hineininterpretieren, die nicht in meiner Absicht lagen. Von einer Abneigung dem Inhalt gegenüber mal nicht zu reden :-)

Keine Ahnung, ob das jetzt Sinn ergibt, ich versuche hier nur gerade, meine Gedanken zu sortieren und dabei ganz im Sinne eines Blogs die ganze Welt teilhaben zu lassen :-D

Jery

P.S. Da ich mit jemandem zusammenlebe, dessen tägliche Arbeit Pläne beinhaltet, traue ich mich gar nicht mehr, etwas zu schreiben, das aus gebäudetechnischer Sicht nicht möglich ist. Und da geht sie dahin, meine Idee mit dem Einbruch durch den Kamin …

Blick vom Ost-Balkon

Über Jery Schober

author translator editor daydreamer Übersetzt Romane, schreibt Fantasy, liest querbeet und malt unerfolgreich.
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15 Antworten zu „Du vastehst mi net“ – Über unterschiedliche Auffassungen eines Textes und die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Interpretation

  1. Evanesca Feuerblut schreibt:

    Doch, doch. Das ergibt durchaus Sinn :D.
    Wie endete denn die Episode mit der Übersetzung? Alles okay?
    Ich hatte ja schon die schrägsten Fälle von „Mich stört das“ vs. „Es ist mir egal“.
    Ich habe da jemandeeeeeen, bei dem ich einerseits will, dass er all die Bücher liest, die ich mag. Aber dann findet ER irgendwas, was mich gar nicht gestört hätte, dann aber stört, weil er es angemerkt hatte und…. aaaaah, ich habe das Buch bis gerade eben noch gemocht :'(
    Und Charaktere, die bei mir nur ein wenig hilflos wirken sollen, sind dann in den Augen der Betaleser so schlimme Vollluschen, dass ich mich in die Ecke legen könnte, um zu weinen. Naja. Hat der Überarbeitung sehr gut getan, das zu erfahren :D

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    • Jery Schober schreibt:

      Oh boy, das kenne ich :-) Da gebe ich Bücher an jemanden, weil ich will, dass sie sie genauso mögen, und es endet damit, dass an den Büchern rumgekrittelt wird, bis ich sie selbst nicht mehr so mag.
      Und was Vollluschen angeht … Da schreibt man jemanden, der voller Charakterstärke sein schweres Schicksal erträgt, und kriegt zu hören, dass der Waschlappen zu jammern aufhören soll. Äh, wieso jammern? Das waren wohlformulierte Überlegungen zu seiner Situation. „Nee, der mosert nur rum. Weichei.“ Oookay, das kam wohl nicht so rüber wie geplant.

      Die Übersetzung war nur eine Probe für den Verlag, nichts, was je an die Öffentlichkeit gelangen wird, von daher gab es keine finale Lösung. Der arme Lektor hat diesen Text bestimmt schon dutzende Male übersetzt gesehen und ist wahrscheinlich auf eine bevorzugte Richtung eingestellt. Obwohl alles Mögliche kritisiert wurde (zu starke Wörter, nicht romantisch genug), muss irgendwas gepasst haben, weil ich einen Auftrag angeboten bekommen habe.

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      • Evanesca Feuerblut schreibt:

        Genau das :D.
        Ja genau :D. Mein Protagonist aus dem Erstlingswerk ist genau SO. Weißt du, was ich aus dem Feedback gemacht habe? Ich habe eine Szene geschrieben, in der mein Prota auf die Nase bekommt von den anderen, weil sie so genervt von seinem Gejammer sind. Und ab dann reißt sich der Junge zusammen. Irgendwie… hat es das gebracht :D.
        Ach so!
        Glückwunsch zum Auftrag und… jetzt bin ich nervös. Lektor für übersetzten Kram war doch das, was ich mir als neuen Berufsweg erwogen habe /o\

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  2. para68 schreibt:

    Das ruft Erinnerungen an den Deutsch-Unterricht in der Oberstufe wach, in dem es ständig heiße Diskussionen um die „richtige“ Interpretation gab. Der Lehrer bemühte sich, uns nahezubringen, dass es „richtig“ und „falsch“ bei Interpretationen nicht gibt, da es absolute Begriffe sind. Er vergab dann aber durchaus Noten von „sehr gut“ bis „mangelhaft“. Man kann einen Autor also auch vollkommen missverstehen (setzen, Sechs) oder mit ihm auf einer Wellenlänge sein.
    Der absolute Super-Gau ist allerdings, wenn man eine möglichst sympathische, liebenswerte Protagonistin erschaffen will, der Meinung ist, dass einem das zumindest einigermaßen gelungen ist und die Lektorin genau das Gegenteil befindet (wie mir gerade passiert). Da möchte man sich nicht nur in die Ecke legen und weinen, sondern das Schreiben ganz an den Nagel hängen.

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    • Jery Schober schreibt:

      Der Unterrichts-Vergleich trifft es. Auf der Schule zählte nur die Meinung des Lehrers, auf der Uni war es zumindest bei mir besser, da wurde jede Meinung akzeptiert, solange sie nur gut genug begründet war. Das erschien zumindest einigermaßen fair. Ich fragte mich aber oft, was der Autor dazu sagen würde, was wir alles in sein Werk hineinlesen …
      Hilft ein Strahlenschutzanzug beim Super-Gau? ;-) Wenn ein Charakter nicht den Vorstellungen des Lektors entspricht, ist das zwar eine Autoren-Katastrophe, aber keine allgemeine Aussage zu all den anderen Charakteren und Manuskripten. Und es ist auch nur ein Lektor, der eine andere Meinung hat, das kann beim nächsten Lektor schon wieder ganz anders aussehen.

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    • udo75 schreibt:

      Tja wenn es zwischen Autor und Lektor so unterschiedliche Auffassungen über einen Charakter gibt, sollte sollte man es mal ganz mit Logik à la Spock durchspielen und ergründen welche Eigenschaften, Charakterzüge und Handlungen einen Menschen liebenswert und sympathisch machen. Da sollte dann eine List mit mehr als zwei Gründen entstehen, und dann sollte man beim geschriebenen Charakter nach diesen Eigenschaften suchen. Aber was weiß ich kleiner Techniker schon *g*
      PS: es gibt sehr wohl ein „falsch“ bei der Interpretation von Texten, was dabei rauskommt sieht man bei der Bibel und dem Koran.

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  3. chickinwhite schreibt:

    Oh jeh, das ist immer meine größte Befürchtung!
    Als ich noch „nur“ Fanfiction geschrieben war, war es allerdings fast schlimmer. Denn die Charactere waren jedem bekannt, manche haben sie abgöttisch geliebt.Un ddann wirst du an bereits festgelegten Vorstellungen gemessen…
    (Glück gehabt: ich hab´s mit der bad-ass Romantik wohl ganz gut getroffen…)
    Als Kind hab ich mich immer gefragt, ob wir alle das Gleich esehen, oder ob wir vielleicht ganz unterschiedliche Wahrnehmung haben. Farben zum Beispiel. Ist mein Blau vielleicht dein Grün :?: Und du hast nur gelernt dass es Blau heißt :?:
    Bin mir heute noch nicht im KLaren, ob da nicht was dran ist. :/
    Aber Deutschunterricht trifft es wirklich exakt! (hatte Deutsch Leistungskurs. Ich weiß wovon ich spreche…)

    OK, du hast also einen neuen Auftrag? COOL!!!
    Ich drück dir alle Daumen, dass da noch mehr kommt!

    Und am Wochenmende meld ich mich ausführlicher. Bin gerade fest in der Überarbeitung… Ach, du weißt ja wie das ist. Wenn du ihm auch nur eine Gelegenheit zur Ablenkung durchgehn läßt, sitzt dein Schweinehund ganz schnell auf der Couch und lümmelt nur noch faul rum…Und Weihnachtsmarkt muss ja auch noch besucht werden, Glühwein getestet, Weihnachtsfeiern durchgestanden… Puuh, ist´s bei dir grad auch so stressig???
    Wie steht´s mit Plätzchen backen? Geschenke kaufen? Und all den Vorbereitungen in diesem Jahr? Wo du doch endlich mal wieder relaxt zu Hause sein kannst… ;)

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    • Jery Schober schreibt:

      Oh Mann, warst du als Kind auch immer am Philosophieren? Ist meine Wahrnehmung auch deine Wahrnehmung? Und woher weiß ich, dass ich nicht gerade träume? Yep, aus solchen Kindern werden später Autoren :-D

      Weihnachststress hab ich keinen, bin allerdings mit Arbeit eingedeckt, daher ist’s nix mit dem Plan einer geruhsamen Adventszeit. Und damit ich auch wirklich kurz vor Weihnachten in ein Down rutsche, hab ich gestern mit der nächsten Überarbeitungsrunde angefangen und raufe mir nach 7 Kapiteln Durchlesen schon die Haare. Und einmal musste ich lachen. Ich weiß nicht, ob schon der Wahnsinn aus mir spricht oder die Stelle wirklich witzig war.

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  4. Stella Delaney schreibt:

    In der Literaturtheorie wird auch oft davon gesprochen, dass der Leser einen Text extrem beeinflussen kann. Im Sinne von: was genau liest der Leser heraus? Und das kann durchaus etwas total anderes sein als das, was der Autor im Sinn hatte. Viele literaturtheoretische Ansätze leben genau davon (so kann man einen Text aus Sicht der Queer Theory oder der kommunistischen Leseweise betrachten, auch wenn der Autor erwiesenermassen mit keiner der beiden Ideologien vertraut war).

    Oder weniger theoretisch: jeder Leser hat seine eigenen Lebenserfahrungen, die seinen Eindruck von einem Text prägen. Wenn man zum Beispiel immer nur Leuten begegnet ist, die erst freundlich waren und einen dann hintergingen, wird man die Figur, die der Autor als freundlich und offen konzipiert hat, zumindest am Anfang automatisch als hinterhältig wahrnehmen. Oder wer gerade eine Trennung hinter sich hat, wird auf eine Trennung in der Geschichte extremer reagieren als jemand anderes (das gilt auch für Traumata – deswegen gibt es ja bei im Internet veröffentlichten Texten häufig Trigger Warnungen).

    Mein persönliches No-Go ist Tierquälerei. Ich kann und will das nicht lesen; es bringt mich sogar so weit, dass ich das buch weglegen und den Autor verfluche. Für einen anderen Leser (und für den Autor) ist dieselbe Passage eine legitime Methode oder sogar eine Notwendigkeit, um die psychischen Probleme der quälenden Person darzustellen (oder anzudeuten, dass diese sich später zum Psychopathen oder zum Mörder entwickeln wird).

    Es gibt übrigens auch sehr interessante Experiemente zur ‚Reader Expectation‘ (was erwartet der Leser von einer Geschichte, basierend auf seiner Erfahrung mit ähnlichen Geschichten? Wie kann der Autor dies ausnutzen, um den Leser zu ‚überraschen‘? Was lesen Leser in eine Geschichte hinein, obwohl es gar nicht da steht?).

    Für einen Autoren man es beunruhigend sein, dass man die Wirkung seines Textes offensichtlich nicht kontrollieren kann. Aber gleichzeitig ist es auch unglaublich beeindruckend, wie jeder Leser den Text zu etwas ganz persönlichem machen kann… und wie der Autor letztlich damit auch Leser in einer Weise ansprechen kann, die er nie geplant oder erwartet hätte.

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    • Jery Schober schreibt:

      Dito, was Tierquälerei angeht. Da bin ich raus. Wobei unser Hund es heute schon für grenzwertig hielt, dass seine Pfote mit Salbeitee abgewaschen wurde und sich gerne beschwert hätte, was diese stinkende Brühe soll. Er fand subjektiv auch, dass das eine Qual war ;-)

      Gerade dieses ungeplante Ansprechen des Lesers fasziniert mich – wo Dinge in Texte reininterpretiert werden, die der Autor nicht im Sinn hatte, die im Nachhinein aber unglaublichen Sinn ergeben.
      Auch in einem Buch finde ich unterschiedliche Reaktionen auf die gleichen Dinge höchst interessant. Wenn 3 Leute die gleiche Szenerie betrachten, wird jeder von ihnen etwas anderes sehen. Deshalb liebe ich Bücher mit mehreren Perspektiven, wo man in mehrere Köpfe blicken kann.

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      • Stella Delaney schreibt:

        Gerade Fans leisten oft ungeheure Arbeit und schaffen mit ihrem ‚hineininterpretieren‘ oft eine Logik, die im Original nie vorhabenden war (oft entweder ein Fall von ‚lazy writing‘ oder Logiklöcher wurden nicht erkannt bzw als ‚unwichtig‘ angesehen) aber sehr viel Sinn macht. So wird einem (Pseudo-)Wissenschaft wie auch Magie einfach ‚vorgesetzt‘ (muss man nicht erklären, ist so), und es gelingt dann den Fans, durchaus passable Erklärungen dafür zu finden, die dann oft so gut sind, dass sie von den Machern/Autoren übernommen oder anerkannt werden.

        Daneben – wie du schon sagst – ist aber auch höchst faszinierend, was verschiedene Personen in derselben Szene ’sehen‘ bzw wie sie dieselbe Figur ‚wahrnehmen‘. Oder eben wie sie alle – unabhängig voneinander – zu demselben Schluss kommen; vor allem, wenn das ein Detail ist, das in der Geschichte gar nicht vorkommt.

        Ich persönlich hatte den Fall mit Let It End (einer recht fragmentarischen Kurzgeschichte, hast du vielleicht gelesen).

        Die Leser waren/sind sehr gespalten in der Meinung, ob der ich Erzähler männlich oder weiblich ist (wird nie erwähnt, auch kein direkter Hinweis wie z.B. Kleidung oder Haarlänge). Die meisten, die ‚weiblich‘ angeben, machen das übrigens an einer bestimmten Szene fest, was ein gutes Bespiel für die generelle Reader Expectation ist: der Erzähler reagiert sehr emotional auf einen männlichen Toten -> häufigste Konstellation für eine solche Szene (basierend auf anderen Geschichten, die man so kennt) wäre Mutter – Sohn oder Geliebte – Geliebter bzw. Frau – Mann – > da der Tote männlich ist, muss die reagierende Figur (der ich Erzähler) weiblich sein.

        Dagegen waren sich alle Leser sicher, dass die Mutter des ich Erzählers tot war. Auch diese Tatsache steht so nirgendwo im Text, die Mutter wird zweimal ’nebenbei‘ erwähnt, aber die Leser nahmen wohl extrem die Stimmung dieser Erwähnungen auf. (Und da der text ein Outtake aus einem Romanprojekt ist, kann ich sogar sagen, dass die Mutter wirklich tot ist und ich das im Kopf hatte, als ich die Geschichte schrieb; somit könnte es zwischen den Zeilen sogar irgendwie da sein, obwohl ich es nicht beabsichtigt habe).

        Und drittens habe ich die Leser mal aus Spass gefragt, wie sie sich den ich Erzähler optisch vorstellen würden. Es wird ja ausser der Augenfarbe gegen Ende nichts explizit erwähnt. Ergebnis: manche Leser ignorieren die Augenfarbe, weil diese erst zum Schluss kommt und sie sich schon ein eigenes Bild gemacht haben. Und die meisten Leser sind sich sicher, dass der Erzähler dunkle Haare hat (dunkelrot, dunkelbraun, schwarz) – helleres rot, braun oder blond wurde bis jetzt noch nie genannt. Ich fand das interessant…

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  5. wiesenirja schreibt:

    Ach je, ja …
    Lass mich raten: Der Autor ist schon tot oder sonstwie nicht erreichbar, so dass Du ihn nicht selber fragen kannst? – Das habe ich nämlich mal bei einer Übersetzung gemacht. War sehr hilfreich, weil manche Anspielungen einfach zu sehr aus einem anderen Kulturzusammenhang kamen, der auch nicht ohne Weiteres recherchierbar war. (Nichts sonderlich Exotisches. Aber alles findet man eben nicht im Netz …)
    Susan Sontag essayierte ja sogar einst „Against Translation“. – Ich kann mich dem nicht anschließen, ist aber ganz interessant.

    Ein Autor, der gestört wird? – „herausreißen“ stimmt! (zu 99 %) ;-)

    Das Kommunikationsproblem zwischen (nicht nur) Autor und Lesern – oha, das ist ein weites Feld! Zu weit für einen bloßen Kommentar. Das breite ich doch besser einmal auf meiner Lesewiese aus.

    Einbruch durch den Kamin? – Doch, sicher geht das. Es kommt nur auf die Art des Hauses und Fähigkeiten & Statur des Einbrechers an …

    LG, Irja.

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    • Jery Schober schreibt:

      Autor ist noch am Leben, das wäre nicht das Problem gewesen, sondern dass ich „indifferently“ nicht mit „gleichgültig“ übersetzen sollte, das sei TOTAL falsch. Da sitzt man mit einem Fragezeichen im Gesicht herum und denkt sich nur, wenn es das falsche Wort für die Übersetzung ist, warum nimmt der Autor dann nicht eines, was seine Intention besser ausdrückt? Weil ich tatsächlich davon ausging, dass der HC etwas auf eine gleichgültige Weise machte. Jetzt weiß ich, dass es mein Job ist, den Inhalt in der Übersetzung fluffiger zu machen. Was dabei herauskommt, wird irgendwann im Sommer zu lesen sein.

      Für meinen geplanten Einbruch hätte der Verbrecher einen Schneidbrenner und feuerfeste Kleidung gebraucht – im Winter in einen Kamin hinunterzusteigen, wo unten Feuer brennt, wäre ja vielleicht noch gegangen, aber das Gitter, das Einbrecher und tote Tiere aufhalten sollte, stand noch immer im Weg. Und ich habe zwar Schießpulver in meiner Fantasy-Welt, aber bis zum Schneidbrenner ist es noch ein weiter Weg ;-)

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      • wiesenirja schreibt:

        Die Fragezeichen hätte ich auch im Gesicht gehabt, und nicht nur dort.

        O.k., das Gitter ist ein Problem. – Tja, da muss ich mich dem Pläne-Fachmann anschließen. Obwohl … Mit Schießpulver … – Näää! ;-)

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